Glasgow in den 1990ern

Die schottische Großstadt hatte sich ab dem 18. Jahrhundert zu einer bedeutenden und reichen Industriestadt entwickelt. Nicht zuletzt aufgrund seiner Lage am Fluss Clyde und dem damit schiffbaren Zugang zum Atlantik sowie den reichen Kohlevorräten der Umgebung konnten zahlreiche Schiffswerften, Eisenbahnfabriken, Textil- und andere Industrien florieren. Das zog viele Menschen an, die auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben waren. Die Bevölkerungsdichte war zeitweise die höchste im ganzen Königreich.

Doch nach dem 2. Weltkrieg, spätestens ab den 1960er Jahren, ging es wirtschaftlich bergab. Viele Werften mussten schließen, Industriebetriebe stellten den Betrieb ein oder siedelten ab. Die zahlreichen Arbeiter aber blieben. Damit kam es auch zu einem sozialen Niedergang, v.a. in den Arbeiterbezirken der Stadt. Massenarbeitsosigkeit, Armut, Verelendung, Alkoholismus, Gewalt, Kriminalität und struktureller Verfall nahmen stark zu, die betroffenen Menschen hatten keine Perspektive mehr. Auch wenn ab den 1990er Jahren die Bemühungen und Investitionen zunahmen um diesen Zustand zu verbessern wirkten die Folgen noch lange nach. Noch zu Beginn der 2000er Jahre lag die Lebenserwartung für Männer in Glasgow im Durchschnitt bei 53 Jahren. Ein Kapitel für sich, auch bekannt als „Glasgow Effekt“.

Vor diesem Hintergrund ist die Handlung eines Buches angesiedelt, das ich gestern zu Ende gelesen habe. Es hat großen Eindruck bei mir hinterlassen und mich auch erst auf die zuvor geschilderten Geschichte der Stadt aufmerksam gemacht.

Dieses Cover entspricht nicht dem der deutschsprachigen Ausgabe, gefällt mit aber besser.

Es ist die Geschichte eines fast 16 jährigen Jugendlichen, der in den 1990ern als Halbwaise in Glasgow East End lebt und mit all dem konfrontiert ist. Mutter selbstsüchtige Alkoholikerin, älterer Bruder gewalttätiger Anführer eine Jungendgang. Mungo, von seiner Mutter nach dem Schutzpatron der Stadt benannt, ist ein hübscher, sensibler, friedlicher, sanftmütiger Charakter und passt so gar nicht in seine harte Umgebung. Er soll ein Mann und ja kein Weichei werden, das wird ihm immer gesagt. Er soll kämpfen und seinem protestantischen Bruder beim Kampf gegen die katholischen Gangs beistehen.

Einzig zu seiner Schwester Jodie hat er einen gewissen emotionalen Kontakt, seine Mutter kann seine liebevolle Zuneigung nicht erwiedern; dabei sehnt sich der Junge sehr nach Zärtlichkeit und Nähe. Doch dann lernt Mungo eine Jungen aus der Nachbarschaft kennen. James betreut liebevoll die Tauben in seinem Taubenschlag, den ihm sein Vater eingerichtet hat. Die Mutter ist gestorben, der Vater ist regelmäßig lange weg von zu Hause, er arbeitet auf einer Ölbohrinsel. James hat also viel Zeit für sich, und zunehmend auch für Mungo.

In kleinen, verschämten Schritten nähern sich die Beiden an, kleine Finger berühren und verschränken sich beiläufg und unkommentiert. Aus angedeuteten Kopfnüssen werden scheue erste Küsse auf den Mund, alles muss aber versteckt und geheim stattfinden. Nichts ist im Umfeld der Jungs schlimmer als als Schwuchtel zu gelten, schwere Prügel oder Schlimmeres, und totale soziale Ächtung wären die Folge. Auch in der Familie ist keine Unterstützung oder Verständnis zu erwarten. Vor allem sein älterer Bruder Hamish setzt Mungo unter Druck ihn und die Gang zu unterstützen, mitzukämpfen, ein harter Mann zu werden. Doch Mungo ist nicht so, er verabscheut die Brutalität der Straße, ist aber eingezwängt zwischen Loyalität, Furcht und Fluchtgedanken.

Die Zeit, in der James Vater weg ist, nutzen die beide zur Annäherung, zur Erkundung ihrer Körper. Finger tasten über spitze Hüftknochen, dünne Arme und zarten Flaum auf blasser Haut. Berührungen, Umarmungen, festgehalten zu werden – wunderschöne Dinge, die Beide sonst von Niemandem bekommen können. Doch dann spitzen sich die Ereignisse zu, die Hoffnung auf Glück und Liebe wird wieder erschüttert. Zusätzlich erzählt wird ein zweiter Handlungsstrang – ein Angelausflug mit zwei Bekannten der Mutter aus der Anonymen Alkoholiker Gruppe. Die schrecklichen Erlebnisse dort zerstören viel von Mungos Kindlichkeit, fordern die ihn ihm versteckte Gewalt heraus, die er seit seiner Kindheit erlebt und erduldet hat. Doch James könnte das wieder heilen, es könnte alles gut werden. James möchte aus Glasgow weggehn, Mungo soll ihn begleiten, gemeinsam könnten sie in einem kleinen Dorf in Ruhe leben.

Mich hat das Buch emotional sehr eingefangen und bewegt, und ich habe dabei auch die eine oder andere Träne verdrückt. Das Spannungsfeld zwischen dem möglichen und auch real Guten und Schönen einerseits und dem gesellschaftlichen und persönlichen Druck andererseits ist enorm. Man möchte den Weg der Hoffnung weiterverfolgt wissen, obwohl die Furcht, dass diese zerschlagen wird, ständiger Begleiter beim Lesen ist; die gefühlte Hilflosigkeit ist grausam. Ich möchte gar nicht mehr viel verraten, aber eine Empfehlung abgeben. Das Buch ist nicht leicht, es ist stellenweies hart, mutet dem Leser oft viel zu, aber es zeigt auch auf so schöne Weise die aufkeimende Liebe zwischen den beiden Jungen, die stärker ist als alle Wiedrigkeiten. Sie können einfach nicht anders.

„Young Mungo“ von Douglas Stuart
Übersetzung Sophie Zeitz
Verlag Hanser Berlin 2023
ISBN-13: 978-3-446-27582-9

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