Zeitung in der Zeitkapsel

Ich habe mit dem Garten meiner Großeltern auch ein altes Stockerl übernommen, das ich vor kurzem einer Sanierung unterziehen wollte. Ich mochte den Stil und Charme und daher ein paar Ertüchtigungen vornehmen. Beim Abnehmen der aufgeschraubten Eternitplatte kam Überraschendes zum Vorschein:

Unter der Platte lagen, wohl zum Ausgleich von Unebenheiten und als Zwischenlage zu den ursprüglich außenliegenden Brettern, einige alte Zeitungen. Ich habe mich gleich gefreut, so einen über viele Jahre konservierten Fund zu machen. Bei näherer Betrachtung war die Freude aber noch größer.

Es handelte sich um einige Blätter von drei verschiedenen Zeitungen, und auch das Erscheinungsdatum ist sehr interessant:

„Das kleine Blatt“ vom 29. September 1938 (Wikipedia)
„Die kleine Volks-Zeitung“ vom 9. Oktober 1938 (Wikipedia)
„Neues Wiener Tagblatt“ vom 9. Oktober 1938 (Wikipedia)

Vielfaches ist interssant wie ich finde. Die Zeitungen sind nur wenige Monate nach dem Einmarsch von und der Annektierung durch Hitler-Deutschland im März 1938 in Österreich erschienen, also inhaltlich interessant – dazu später mehr. Wer auch immer der Hocker besaß hatte zumindest drei verschiedene Zeitungen gekauft und gelesen – unerwartet. Und nicht zuletzt wurde die Zeitungen offenbar bei einer vorhergehenden Sanierung des Stockerls eingelegt, und das war schon vor 86 Jahren! Das originale Stockerl ist also noch deutlich älter – hätte ich nicht erwartet.

Zum Inhaltlichen

„Das kleine Blatt“, 1927 als leichter zugängliches Medium zur Verbreitung sozialistischer Inhalte gegründet, wurde vom NS-Regime rasch „umgebaut“. Hier ein paar anschauliche Beispiele, der ganze verfügbare Text strotzt vor NS-Themen:

Die „Kleine Volks-Zeitung“, 1918 aus der ursprünglich „Oesterreischichen Vokszeitung“ hervorgegangen, liegt mir hauptsächlich in einigen Blättern Kleinanzeigen vor. Interessant ist auch hier die merkbare Durchdringung mit NS-Diktion:

Das „Neue Wiener Tagblatt“ erscheint seit 1867 und wurde nach 1938 aufgrund ihrer großen Verbreitung rasch in die Propaganda eingegliedert und auf NS-Kurs gebracht. Mir liegt sie hier als Sontagsausgabe und haupsächlich in Erzählungstexten sowie Börsenkursen vor. Die Erzählungen sind harmlos bis kitschig, die Börsenkurse zeigen noch Handelsdaten mit den Regimegegnern. Und: Es gab 1938 Aktienkurse für Schmalz aus Chicago – faszinierend.

Ich habe die Zeitungen geborgen und das Stockerl behutsam saniert. Verwendet wird es immer noch. Um so lieber, als ich nun seine lange Geschichte besser kenne.

Fotos: Autor

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